29.07.2016
Erster Tagebucheintrag
Von Helge
38 Grad in der Sonne. Der Schweiß tropft von mir herab. Vollbeladener Rucksack auf dem Rücken. Eine Box voller Nagelknipser, Bücher, Nagelscheren auf den Armen, die gefühlt so schwer ist wie ein Amboss. Und zack, die Box fällt mir runter und ich stehe mitten auf der Straße irgendwo im Zentrum von Thessaloniki vor einem großen Meer an Büchern und Nagelfeilen, die Ampel wird grün, die Autos schauen und hupen mich an als hätte ich ein Schwerverbrechen begangen oder den griechischen Nationalheiligen Andreas höchst selbst beleidigt. Ich schaue kurz umher und blicke in die Sonne am Himmel und frage mich schwitzend und schmunzelnd: Was mache ich hier eigentlich?
Ja, was mache ich hier eigentlich und wer bin ich, der hier gerade einen Tagebucheintrag über seine Arbeit schreibt? Naja, mein Name ist Helge, ich komme aus Deutschland und bin in Thessaloniki, Griechenland. So viel ist schon mal sicher. Ich habe drei Monate bei einer Stiftung in Athen gearbeitet, für die ich ein Paar mal an mehr, mal weniger erhellenden Konferenzen teilgenommen habe. Bei einer davon lernte ich Dorothee kennen. Eine deutsche evangelische Priesterin, die jahrelang die evangelische Kirchengemeinde Thessaloniki geleitet hat und in ihrem wohlverdienten Ruhestand, anstatt die Füße hochzulegen, Flüchtlingsarbeit in Thessaloniki betreibt. Sie hat bei einer dieser tollen Konferenzen einen einfühlsamen und berührenden Vortrag über ihr Engagement gehalten. Ich war so angetan, dass ich mich danach lange mit ihr unterhalten habe und schließlich beschlossen habe, noch einen Monat länger in Griechenland zu bleiben, mich ins Auto nach Saloniki zu setzen und hier zu helfen bevor mein Studium in Schweden im August weitergeht.
Ich studiere übrigens zwar nicht irgendwas mit Medien – vermutlich noch schlimmer –irgendwas mit Politik und anderem Gedöns. Was ich nur sagen will ist, dass ich mich qua Amt recht viel mit den Zahlen und politischen Zusammenhängen rund um die Solidaritätskrise beschäftigt habe, welche durch die großen Migrationsströme aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderen Ländern, in denen auch der Westen eine kleinere oder größere Rolle spielt, in Europa zum Vorschein gebracht wurde. Was ich aber nicht kannte und kennenlernen wollte, ist die Situation vor Ort und die vielen persönlichen Schicksale, die im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleiben. Deshalb habe ich mich also frohen Mutes in meinen kleinen Twingo gesetzt und war einfach gespannt, was denn da so auf mich zu kommen möge.
Was kam war zunächst ein ganz herzliches Willkommen bei NAOMI mit ihren Helfern und bei den anderen Organisationen Antigoni und Oikopolis, die idealerweise alle im gleichen Gebäude sitzen, was die Fuß- und Organisationswege sehr kurz hält. Das sind echt super Leute hier, aber die will ich jetzt auch nicht über den Klee loben. Die wissen alle, dass ich mich sehr über das freundliche Willkommen sehr gefreut habe, sie eine super Arbeit machen und dass es tendenziell Liebe auf den ersten Blick zwischen uns war. Die Chemie stimmt einfach.
Was dann kam bei meinem ersten Camp-Besuch war Anspannung. Als wir im Bus saßen, machten alle Helfer um mich herum lockere Späße, kleine Witze. Kurzum: Die Stimmung war gelöst. Ich aber saß im Bus und bereitete mich auf die Erfahrungen vor, die vor mir lagen. Aber das war natürlich Blödsinn, denn darauf kannst du die nicht wirklich vorbereiten. Genauso war es viel zu ambitioniert, dass ich in meinem deutschen Organisationssinn eine komplette Trainingseinheit mit Übungen und Zeitangaben vorbereitet habe – ich wollte als ehemaliger Jugendtrainer Fußballtraining geben – aber da wusste ich noch nicht, wie fröhlich chaotisch die Kinder im Camp herumspielen.
Was ich aber bereits während der Fahrt wusste, war, wie absurd die Situation ist. Du setzt dich in einen Bus, fährst 10 Minuten, biegst ungefähr an einer Shell-Tankstelle ab, an einer Straße mit Mechanikern, Geschäften und allem, was man sonst so eben kennt in diesem herrlichen griechischen Chaos und fährst noch zwei, drei Kilometer eine Landstraße entlang und kommst in einer ganz anderen Welt an.
Diavata wiedeurm, die Gegend in der das Camp liegt, hat selbst einige Probleme und ist ziemlich heruntergekommen und hier wurde zu allem Überfluss auch noch ein Flüchtlingscamp hingesetzt, was zu Beginn auch einige Probleme bei der lokalen Bevölkerung gemacht hat, wie mir berichtet wurde. Aber dass der Übergang zwischen, naja, zwei Welten, so schnell geht, kam mir dann doch absurd komisch vor. Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, ist sogar direkt am Camp-Eingang eine Bushaltestelle, die übersetzt „Flüchtlingscamp“ heißt.
Klingt das komisch? Versteht man als Außenstehern, was ich sagen will? Auf der einen Seite hast du ein Camp mit Leuten, die dort festsitzen, die maximal ein Zeltdach über dem Kopf haben. Auf der anderen Seite ist eine Haltestelle für einen stink normalen Bus, der in eine ganz „normale“ Welt fährt, den die Leute im Camp zwar durchaus nehmen dürfen, aber nicht nehmen können, weil der sie ja auch nicht wirklich in ein besseres Leben fährt, sondern weg von dem Ort, wo sie immerhin bleiben dürfen und ein paar Strukturen in diesem fremden Land kennen.
Uff, die letzten Zeilen waren sogar mir etwas zu bedeutungsschwanger, aber ich hoffe, man kriegt eine Idee von dem Gefühl, dass ich während der Fahrt spürte. Wie auch immer, dafür schildere ich die Zustände im Camp jetzt nüchtern. Versprochen. Man betritt das Camp, grüßt die Polizisten und die Ärzte vom roten Kreuz und geht eine Runde, damit die Leute mitbekommen, dass wir Freiwilligen da sind. Nummerierte Zelte, zu wenig Dixi-Klos auf der einen, ein Ascheplatz – Geröllplatz wäre wohl der treffendere Ausdruck — mit Fußballtoren, einem kleinen Spielplatz auf der anderen. Gedanken: „Oh Gott, mir ist schon heiß, wie ist das erst in den Zelten.“ Oh Gott, hier wohnen ca. 1.500 Menschen, die Klos reichen niemals.“ „Oh Gott, dieses Baby ist so klein, das muss hier geboren sein.“ Und zu guter Letzt: „Wenn die UN mit ihren Zelten und die EU mit ihrem, wie es auf dem Schild draußen steht, Geld zur humanitären Hilfe nicht hier wäre, dann will ich gar nicht wissen, wie es hier aussähe. Und trotzdem ist es vermutlich – gemessen an meinen Standard aus dem schönen, heilen Deutschland – immer noch zu wenig.
Die Kinder gehen, als wir mit ersten Spielen und Musik beginnen, ohne Scheu auf mich los. Immer wenn ich sage, dass ich aus Deutschland komme, leuchten ihre Augen auf. Viel zu oft höre ich, dass ihre Väter, Brüder schon in Deutschland sind. Doch dann kommt etwas, was ich meinen Lebtag nicht vergessen werde. Als ich einigen Kindern auf die gefühlt 1000 Nachfrage antworte, dass ich aus Deutschland komme, bilden etwa 20 einen Kreis, tanzen um mich herum und singen etwas, das wie „Ja, Merkel, Ja, Merkel, Jambona Merkel“ klingt. Der kleine Volkstanz endet mit einem noch kleineren Jungen, der zu mir aufschaut und sagt: Germany, very good“.
Ich will das Gefühl, das ich da im Kreis empfunden habe jetzt auch nicht überstrapazieren, verstanden habe ich es vermutlich bis jetzt nicht so richtig; sagen wir für’s erste einfach: Ich war perplex. Das Lied, so versichert mir Rodrigo späte – seines Zeichens Freiwilliger aus Granada, der auch arabisch spricht – handelt davon, wie toll unsere Bundeskanzlerin sei.
Später kriege ich doch noch einige Kinder aus der Menge dazu, mit mir eine Runde zu kicken. Als ein Junge den Ball so dermaßen über das Tor zimmert, dass der Schuss sogar Sergio Ramos alle Ehre gemacht hätte – sagt ein Kind: „Haha, Ball Turkey.“ Ich grinse. Sein Freund antwortet: „Ball go Turkey. We don’t Turkey. We must here stay“. Ich seufze. Und fühle mich irgendwie leer. Ein Gefühl, dass mich auch beim Verlassen des Camps begleitet. Ich gehe einfach durch’s Tor, weil ich durch einen zufälligen Willen des Schicksals – vermutlich auch durch meine lieben Eltern — das Glück des deutschen Passes erfahren habe; die Kinder bleiben zurück, weil sie das Pech haben, ein anderes Stück Papier zu haben als ich.
Aber das Gefühl werde ich, jetzt wo ich gerade bei einem Feierabendbierchen auf der Terrasse sitze, das hier schreibe und mir eine Mücke an den Knöchel sticht– immer an den verdammten Knöchel –noch nicht los. Spontan denke ich jetzt an die Leute im Camp, wie viele Probleme die dort erst mit den Viechern haben müssen. Aber das ist vermutlich nur eines der kleineren Probleme von den unfassbar vielen, welche die Leute dort haben.
So, damit will ich es heute auch Bewenden lassen. Ich gehe jetzt schlafen. Wie die Geschichte auf der Straße von Saloniki ausgegangen ist und was es mit den Nageknipsern und anderen Dingen auf sich hat, erfahrt ihr nächstes Mal. Das nennt man — hoffe ich zumindest – Spannungsbogen. Wenn ihr mögt bleibt dran. Ich versuche, einfach meine Erfahrungen und Gedanken zu teilen. Ohne Anspruch auf angemessene Kommasetzung, Vollständigkeit, und inhaltliche Richtigkeit. Oder – wie es in einem guten, alten deutschen Hip Hop Song heißt: „Es sind meine Gedanken, macht es Sinn, dass du sie benotest?“ Ich versuche ab jetzt regelmäßig zu schreiben.
Grüße, Helge