Hallo zusammen,
danke erst ein Mal für das echt überwältigende Feetback (höhö) aus Deutschland. Ich habe gehört, dass viele wissen wollen, wie es mit den Nagelknipsern weitergeht – die muss ich leider enttäuschen. Ich soll und möchte natürlich auch etwas über die Strukturen der Organisationen schreiben, für die ich gerade arbeite.
Obwohl, ich glaube, ich kriege den Bogen gespannt zum Ende des Eintrags. Dafür müsst ihr aber leider bis zum Ende lesen. Naja, ich versuch’s zumindest, bin heute gut drauf. Neues Harry Potter-Buch ist raus. Manchmal ist es schön, bei dem ganzen bedrückenden Problemen hier, sich wieder wie der kleine Junge von damals zu fühlen und einfach den neuen Harry Potter zu lesen. Klingt ein bisschen nerdig, aber hey, man muss auch mal wieder Kind sein dürfen.
Aber jetzt zu den Organisationen hier in Saloniki. Ihre Stadt: Thessaloniki. Ihr Bezirk: Zentrum. Ihre Gegend: Rund um eine der belebten Hauptstraßen Egnatia. Ihre Straße: Ptolemeon. Ihr Block: 29a. Ihre Gedanken, ihr Herz, ihr Leben, ihre Welt reicht vom fünften bis zum sechsten Stock. Nein, jetzt mal Spaß bei Seite: Ich arbeite für OIKOPOLIS, ANTIGONI und NAOMI. Sie sitzen alle auf verschiedenen Etagen des selben Gebäudes, was wie gesagt die Organisations- und Kommunikationswege sehr kurz hält und ein einmaliges Gemeinschaftsgefühl erzeugt.
Oikopolis macht wirklich einfach unbeschreiblich wertvolle Arbeit. Hier gibt es als Anlaufpunkt unter anderem eine Art großen Gemeinschaftsraum – Harry Potter lässt wieder grüßen — mit Balkon und einer Küche, wo regelmäßig einer der Flüchtlinge kocht. Oikopolis bietet zusätzlich – neben der vielfältigen Arbeit in den Camps (Essensausgabe, eigene Küchen und der Verteilung von anderen Hilfsgütern) — eine Kleiderausgabe an. Hier hat sich, wurde mir von Helfern berichtet, die Situation merklich entspannt. Gab es früher Schlangen bis auf die Treppen, sind gelegentlich ein paar Leute einmal pro Woche hier und holen sich Klamotten ab.
Außerdem wird hier English Unterricht von Flüchtlingen für Flüchtlinge angeboten. Ich selber gebe deutsch. Das mein Vater Deutschlehrer war und ich jetzt hier stehe und Leuten auf ihrem Weg nach Deutschland helfe, naja, irgendwie hat das Schicksal manchmal Humor. Ihr kennt ja bestimmt die Sache mit dem Apfel und dem Stamm. Die Atmosphäre jedenfalls, wenn man hier nach den Camp-Besuchen oder dem Unterricht erschöpft zusammensitzt und ein Bierchen in diesem farbenfrohen Café trinkt, ist wirklich unbeschreiblich. Vielleicht schreibe ich mal ein paar Gespräche auf.
Eine Etage drüber sitzen mehrere Organisationen in einer stickigen Luft, die von den Klimaanlagen mehr schlecht als recht bekämpft wird. Auch ANTIGONI hat hier ihr Büro. ANITGONI dokumentiert viel, indem viele Berichte und Daten gesammelt und geschrieben werden und die Website dieser NGO somit zu einer Art Fundgrube von Informationen wird. Die Mitarbeiter, größtenteils jüngere Frauen und Studentinnen kurz nach ihrem Abschluss, sind alle durchweg herzlich und haben vermutlich ein paar Jahre Engagement für Menschenrechte auf dem Buckel. ANTIGONI fährt drei mal pro Woche mit einem Bus, der von der Universität gesponsert wird, in die Camps. Derzeit regelmäßig nach Divata – könnt ihr gerne im letzten Beitrag nachlesen. Ab nächster Woche auch regelmäßig nach Cherso, ein Camp, das sich anscheinend vom Saulus zum Paulus gewandelt hat. Dank eines neuen Camp-Managers sollen sich die Zustände dort stark verbessert haben. Größtenteils dreht sich die Arbeit im Camp bei ANTIGONI dabei um Gymnastik, Sport, Musik und Spiele für die Kinder.
Und schließlich NAOMI, das Beste kommt ja bekanntlich zum Schluss. Nein, Spaß bei Seite. Die Arbeit der einen Organisation lässt hier wirklich nicht gegenüber dem Engagement der Anderen aufwiegen. Das will hier auch wirklich niemand. Vielmehr wird sich ergänzt, vielmehr entsteht hier durch das Zusammenwirken der Einzelnen im Gebäude Ptolemeon etwas tolles, großes Ganzes. Alle eben darin geeint, die Situation für die Flüchtlinge einfach etwas erträglicher und würdevoller zu gestalten.
NAOMI, die „ökumenische Werkstatt für Flüchtlinge“, sitzt ebenfalls im sechsten Stock. Viel muss ich ja im Grunde nicht dazu sagen, da jeder die inspirierende Arbeit auf dieser Website nachvollziehen kann. Was ich aber hinzufügen möchte, ist, dass in NAOMI beeindruckend viel Herzblut steckt: Als Anlauf- und Informationsstelle für Flüchtlinge: als Ort zum Freundschaften schließen – ich meine, zu meinem Geburtstag haben wir mit 15 Leuten aus aller Welt acht Stunden syrisch gekocht und unfassbar viel Spaß gehabt; vor allem aber als Ort, wo den Leuten mit den Nähkursen eine Möglichkeit geboten wird, in ihrer Zeit wirklich etwas zu gestalten, mit ihrer Zeit wirklich etwas anzufangen. Viel zu oft ist es eben das Nichtstun, was den Flüchtlingen so zusetzt. Und wer weiß, vielleicht erlernen die Leute hier erste wichtige handwerkliche Fertigkeiten, die ihnen die Arbeitssuche später einmal erleichtern können.
Zum Abschluss — ich weiß, ich bin vermutlich schon wieder viel zu lange dabei, da im Internet ja jeder maximal drei Minuten auf einer Seite bleibt — die Geschichte mit den Nagelknipsern. Aber, um den Gedanken kurz zu Ende zu führen, glaube ich, dass Leute auch gerne einen längeren Eintrag lesen, wenn er interessant und unterhaltsam ist. Dass keiner in einer Welt leben will, in der die Trennung von Ondré Schürrle und Montana York im Spiegel unter Kultur geführt wird und dann eben fluchtartig die Website wechselt, das sollte jedem klar sein.
Wie auch immer — die Nagelknipser also, ganz kurz. Als Erinnerung: Ich, große Kiste mit viel Kram – Büchern, Hygieneartikeln – viel zu heiß, viel zu schwer, Kiste fällt mitten auf einer der Hauptverkehrsstraßen runter, Hupkonzert. Was passiert dann? Ein Taxifahrer, der mich vermutlich vorher auch noch am lautesten angehupt hat, steigt aus, lädt mit mir die Sachen in seinen Kofferraum und fährt mich 10 Minuten zu meinem Auto. Wir laden die Sachen kurz, ich bedanke mich überschwänglich. Das Geld, das ich ihm hinhalte will er nicht nehmen und fährt pfeifend davon. Ich bleibe perplex zurück und fahre los.
Das war eigentlich schon die Geschichte. So kurz, aber doch irgendwo so treffend für die griechische Freundlichkeit trotz oder wegen Wirtschaftskrise. Sie sollte eigentlich der peppige Einsteiger für meine Fahrt in ein anderes Flüchtlingscamp mach Petra sein, wo ich die Pakete abgeliefert habe. Und eigentlich war der Plan, die Frage: „Was mache ich eigentlich hier“, literarisch einwandfrei am Ende des Textes wieder aufzugreifen, um pathetisch zu antworten: „Für die Freude in den Augen der Leute, wenn ich ihnen eine Kleinigkeit wie einen Nagelknipser aushändige, dafür mache ich das hier“.
Wie dem auch sei, den Bericht zu Petra gibt es ein andermal. Und der ist natürlich so überragend interessant, da hilft dann wohl nur dran bleiben. Spannungsbogen und so, ihr kennt das ja.
Viele Grüße aus Saloniki, Helge